Dinge anders sehen und den Wendungen vertrauen

Dinge anders sehen und

Den wendungen vertrauen

 

Viereinhalb Wochen ist es schon wieder her, dass mich ein Bus der Ötztaler Bahnen über Südtirol und den Brenner, von Osttirol nach Innsbruck brachte. Dort angekommen treffe ich beim Warten am Bahnhof einen jungen Mann mit mittelgroßem Rucksack. Er ist von Wien nach Innsbruck getrampt und ist im Begriff Volksschullehrer zu werden.

Irgendwie verstehen wir uns schnell und graben in den 10 Minuten die wir tratschen ziemlich tief. Wir sind überzeugt: Das Leben kann gelingen, wenn wir unsere Entscheidungen mutig und mit Glauben an uns und das Leben treffen. Das will er auch den Kindern, die er eines Tages in der Schule haben wird, beibringen. Ist das in den Schulen heute möglich? Vielleicht! Wo kann ich das besser erforschen als bei jemandem, der eine Reformpädagogische Schule aufgebaut hat. Gernot Candolini hat vor rund 20 Jahren die Montessori Schule Innsbruck mit ins Leben gerufen. Ich bin auf ihn gestoßen, weil seine Vergangenheit eng mit Oberschützen verbandelt ist. Er lebte für 4 Jahre im Wimmerhaus und war verantwortlich für die Jugendarbeit in der evangelischen Kirche, außerdem war er Biologie-Lehrer im evangelischen Gymnasium. In dieser Zeit hat er viele Junge aufwachsen sehen, die heute das Bild von Oberschützens Erwachsenen prägen. Der jetzige Bürgermeister, Hans Unger, war damals beim Feriencamp dabei, Klaus Murlasits, Willi Böhm... Es war spannend, zu hören wie es damals in Oberschützen war. Und ich glaube Gernot kennt die Oberschützer heute noch besser als ich. Damals war das Gasthaus Istvanitsch eine Institution, man traf sich einmal in der Woche zum Jugendkreis im O.T. Es wurden Kamin- und Kartenabende im Wimmerhaus veranstaltet. Wintercamps für die Jugendlichen und allerhand Feiern. Es war damals viel los rund um das Wimmerhaus in dem dann Klaus Pahr, als Gernots Nachfolger, als letzter Jugenddiakon (so die Bezeichnung für die Tätigkeit in der Jugendarbeit in der evang. Kirche) im Wimmerhaus lebte. Über Klaus kam ich also zu Gernot, der ja schon 1994, 3 Jahre vor meiner Geburt, mit der Familie wieder nach Innsbruck gegangen war. Ich bot ihm an in der Montessori-Schule einen Clownworkshop zu geben und er war gleich dabei und sicherte mir zu 2 Wochen bei seiner Familie wohnen zu können.

Als ich also an diesem etwas verregneten 13. November am Innsbrucker Bahnhof in Gernots Auto stieg war ich gespannt. Auf der Rückbank saß Paula, Gernot’s zweite Tochter, eingezwängt zwischen Pappkartons. Man sah gleich, die denken praktisch und müssen sich nicht immer an Regeln halten. Das sollte ich in den Wochen bei ihnen bestätigt bekommen. Wir fuhren noch am Abend in die Schule, damit ich den Raum für den Workshop kennenlernen konnte. Ein wenig zur Schule:

Man muss sich etwas umstellen als jemand, der aus einer Regelschule kommt. Einmal fragte ich Paula beim Abendessen: In welchem Fach hast du denn den Vortrag gehalten?

Da erwiderten alle am Tisch: Bei uns gibt es keine Fächer!

Also ein kurzer Montessori Grundkurs: 

In einer Klasse sitzen Schüler von 3 Jahrgängen, also die 6-9, 9-12 und 12-15 jährigen sind jeweils zusammen. So etwas wie einen fixen Stundenplan gibt es nicht wirklich, es ist eher grob geplant. Es gibt viel Freiarbeit, das heißt, die Kinder können sich mit einem Fach ihrer Wahl beschäftigen. Es wird aber gefordert, dass sie gewisse Dinge können um weiterzukommen. Ich kann hier nicht genau darauf eingehen, da ich nie beim Unterricht dabei war, ich hoffe ich gebe es hier richtig wieder. Der Ansatz von Maria Montessori geht vom Kind aus. Sie hat Kinder beim Aufwachsen beobachtet und Erstaunliches festgestellt. Es gibt gewisse Phasen im Leben eines Kindes, wo es sich ganz stark für ein gewisses Thema interessiert. Schreiben wollen sie schon mit 4 und können es auch zu einem gewissen Grad schon lernen, Rechnen mit Fünf. Dafür, ob ein Wort grammatikalisch richtig geschrieben wurde, interessieren sich Kinder erst mit 12. Es ist so spannend das zu wissen, weil es die Beziehung von Lehrer und Schüler so entspannen kann, wenn man einem Kind in einer Zeit etwas beibringt, in der es von Natur aus ein Interesse dafür hat. Man muss dann nicht kämpfen, damit die Kinder etwas lernen, sie lernen gerne. Kinder mögen es zu arbeiten und etwas zu lernen, man sollte nur bedenken, was sie gerade interessiert. Zurzeit ist es in der Schule eher so, dass man Kinder als etwas, „zu Erziehendes“ sieht. Was, wenn die Kinder einfach so von sich aus, wenn sie nur die richtigen Werkzeuge und Begleiter haben, sich selbst erziehen. Klar braucht es trotzdem Regeln, aber andere. Ziemlich revolutionär alles oder? Stimmt, und es funktioniert. 

In meiner Schulzeit waren die Schüler, die aus einer Montessorischule kamen, die „Komischen“. Wir wussten nicht, was sie in dieser Schule gemacht haben, aber sie verhielten sich irgendwie anders. Solche Kinder, die nach der Montessori-Schule, die ja an den meisten Standorten nur bis zum Alter von 15 geht, in eine „normale“ Oberstufe kommen, fallen wirklich öfter auf. Dadurch, dass sie oft Fragen stellen; Dinge, die sie stören direkter aussprechen und mit dem Konkurrenzdruck der Schüler untereinander nicht wirklich etwas anfangen können. Manche Lehrer können gut mit ihnen, andere kommen mit ihnen weniger gut zurecht. Aber sie haben keinen großen Lernnachteil vom Stoff her. 

Das Modell hat hier und da seine Fehler und Schwierigkeiten, aber es gibt sehr viele Ansätze, die eine Chance verdient haben, weil sie einfach näher am Leben der Kinder und Freiheits- und Persönlichkeitsfördernder sind.

 

 

Bei Gernot's Vorlesung an der Uni über Reformpädagogik, die ich 2 mal besuchen durfte, entstand dieses Bild. Julian, ein Student und ich zeichneten es. Die Vorgabe war: Gestaltet etwas künstlerisches zum Thema Lehrer-Schüler Beziehung. Das war unser Beitrag. Es gibt viele Wege zum Gipfel, nicht für jeden passt derselbe Weg. Der Lehrer ist da um den Aufstieg zu erleichtern und zu sichern. 

Ein Klassenraum der Schule
Ein Klassenraum der Schule
Der Schulhof
Der Schulhof

 

Aber genug dazu. Am Mittwoch, 2 Tage nach meiner Ankunft, stand der Clownworkshop am Programm. Ich war ein wenig nervös, aber das fiel bald ab, auch weil sich alle Schüler entschieden, nachdem ich ihnen erklärt hatte, was wir machen werden, am Workshop teilzunehmen, das hätten sie nicht gemusst, wie gesagt, freie Wahl, aber sie waren dabei. Die Workshops beginnen immer damit, dass die Teilnehmer zu ihrem Lieblingslied, das ich in den Tagen davor von fast allen, durch eine aufgehängte Liste in die sie sich eintragen konnten, herausgefunden hatte, den Raum betreten. Sie werden angefeuert und bejubelt, holen sich im Kreis eine Runde High Fives und rufen ihren Namen, den dann alle wiederholen. So kommt jeder mit etwas Persönlichem in der Runde an und wird dafür gefeiert. In den meisten Gruppen merkt man da schon, wie ein paar Barrieren zu bröckeln beginnen, es wird feierlicher und offener. Dann geht es los mit verschiedenen Übungen, sich und andere wahrzunehmen, Musik, Bewegung. Dann wird zu zweit miteinander gespielt, ganz Einfaches wie Fangen, aber sehr lustig und spannend. Man schenkt sich Aufmerksamkeit. Versucht doch mal wieder mit einem Freund Fangen zu spielen!

Irgendwann kommt die rote Nase ins Spiel. Am Ende kommt noch ein wichtiger Teil, die Philosophie dahinter. Dass ein Clown anders handeln kann, Dinge anders sehen kann. Neue Wege gehen kann um die Welt fröhlicher und schöner zu machen.

Dann stelle ich die Frage: Habt ihr noch Lust in die Stadt zu gehen um Luftballone zu verteilen? Bis jetzt waren die Teilnehmer stets dabei. Auch hier wieder, wir setzten uns die Nasen auf, besprachen noch ein paar Aktionen die wir ausprobieren wollten und stolzierten los. Wir wollten jeden dem wir begegnen grüßen, Zebrastreifen tanzend überqueren, Luftballone verteilen und Seifenblasen machen. Manche gingen mehr aus sich heraus, manche weniger, aber jedes Mal ist es erstaunlich, wie gerne viele der Kids auf andere zugehen um ihnen eine Freude zu machen. Manchmal ist die Taktik nicht die richtige, man berät sich und sagt: du solltest etwas langsamer auf die Leute zugehen, sie nicht überfordern, ihnen deine gute Absicht zeigen bevor du den Mund aufmachst.

Auf dem Platz bei der Annasäule gegenüber vom goldenen Dachl blieben wir einige Zeit. Mit zu den schönsten Erfahrungen zählt es, wenn wir den Menschen einen Luftballon schenken und sie ihr Geldbörsel rausholen um zu bezahlen, wir ihnen aber dann sagen: „Nee, das kostet nichts, außer vielleicht ein Lachen.“ Mit vielen kann man darüber reden, wie Freude und Leichtigkeit im öffentlichen Leben soviel zu kurz kommen. Wie bedrückend und schwer es oft ist und das zur Normalität zu werden scheint. Es ist nicht normal, dass wir in den Straßenbahnen sitzen und bedrückt auf den Boden schauen. Es ist nicht normal, dass in der Öffentlichkeit jemand weint und keiner hingeht und nachfragt. Wir Menschen gehören zusammen, wir vergessen das nur leider oft und sehen Konkurrenz und Feind in vielen die uns begegnen. Ich rufe dazu auf: Brechen wir diese Schwere und Gleichgültigkeit doch auf. Stück für Stück und jeder soweit er kann und will. Damit wir Menschen uns wieder immer mehr als Teil von mehreren Menschen sehen können, als durch unsere gemeinsame Menschlichkeit Verbundene, wie entspannend und beruhigend wäre das? An so eine Gesellschaft sollten wir bauen. 

 

Innsbruck-Wo die Straßenbahn auch mal durch den Wald fährt-wow
Innsbruck-Wo die Straßenbahn auch mal durch den Wald fährt-wow

Als wir wieder in die Schule kommen ist das Mittagessen fertig (die Schüler kochen einmal in der Woche mit einem Lehrer selbst) und die Lehrerin der anderen Klasse fragt mich, ob ich nicht den nachmittäglichen Sport mit ähnlich clownesken Übungen gestalten will. Großartig! 

Eine wichtige Aufwärmübung für alle auch zu Hause:

Gesicht Aufwärmen: das Gesicht einmal nach links verziehen, nach rechts, nach oben, nach unten (so wie ein Löwe brüllt) und zusammen (Zitronengesicht). So aufgewärmt ging es dann los, 2 mal10 Kinder je 45 Minuten. Das war toll, im Garten umherlaufen und spielen. Nächste Woche sollte ich das noch einmal machen dürfen, diesmal mit Musik untermalt. Laura, die Lehrerin, bedankte sich, ich sage ihr mit gespielter Ernsthaftigkeit, dass ich das aber nicht umsonst gemacht habe. „Ich suche nämlich eine Möglichkeit Sport zu machen und habe gehört, dass du klettern gehst.“ Sie freut sich und lädt mich ein am Freitag mit in die Kletterhalle zu kommen. 

Am Samstag schneiden Gernot und ich im Garten die Büsche und am Sonntag geht es ins Theater. Gernots Tochter Hannah spielt nämlich in einem Stück die Hauptrolle. Und nicht in irgendeinem. Der kleine Prinz! Ein Kinderstück. Es ist super. Hannah geht auf in ihrer Rolle, hüpft frei über die Bühne und hinterfragt die Erwachsenenwelt. 

Am Dienstag gehe ich mit einem Freund der Familie eine Skitour. Das erste mal stehe ich heuer wieder auf Ski. Wir gehen in einem Skigebiet die Pisten rauf, das noch nicht eröffnet wurde. Man kommt ins Reden beim Skitourengehen, es tut mir sehr gut mit Elmar zu tratschen. Am Donnerstag gehe ich eine kleine Wanderung auf einen Hügel außerhalb von Innsbruck. Knapp vorm Gipfel kommt mir eine ältere Frau entgegen, die irgendwie nett wirkt. Also frage ich sie wie es am Gipfel ist und wir reden kurz, bis wir beide wieder weitergehen. Nach ein paar Metern höre ich sie fragen: Studieren Sie? Ich erkläre ihr kurz was ich mache und sie sagt mir, dass sie jemanden sucht, der hin und wieder vorbei kommt und mit ihr Scrabble fürs Gehirntraining spielt. Sie würde das natürlich auch bezahlen. Am nächsten Montag besuchte ich sie. Zunächst war es komisch, mit einer alten Dame Scrabble spielen, Florian, was machst du hier, das ist alles skurril. Doch als wir fertig sind kommen wir ins reden. Sie war früher Profi Langläuferin und trainierte danach beim ÖSV. Dann war sie Turnlehrerin, wie die Mama. Ich fühle mich nun doch darin bestätigt gekommen zu sein, sie gibt mir etwas Geld für die Zeit, die ich mit ihr Scrabble gespielt habe und ich fahre wieder. Manchmal ist es witzig was sich so ergibt, wenn man es nicht erzwingt.

 

 

 

Apropos sich ergeben. Gernot ist Spezialist für Labyrinthe. Er hat auch das Labyrinth im Bad Tatzmannsdorfer Kurpark entworfen. Mit dem Labyrinth verbindet er den Lebensweg, der immer wieder Kurven hat, mal zum, mal weg vom Ziel führt, aber es ist egal was man macht, solange man weitergeht, kommt man auch an. Das ist der Unterschied zum Irrgarten: Es gibt nur einen Weg, dem man folgen kann, der am Ende sicher zur Mitte führt. An einem Abend bauen wir für das Lichterfest der Schule ein Lichterlabyrinth aus Kerzen.

Es ist auch interessant Gernots Geschichte anzuschauen. Er kämpfte in der Schule ziemlich mit Deutsch, entschied sich für das Lehramt Biologie, studierte ein Jahr, dann ging er nach Amerika als Deutschlehrer, studierte ein Jahr, machte wieder etwas anderes, reiste nach Indien, studierte Medizin, weil es ihn gerade interessierte, studierte wieder Bio, studierte fertig, ging nach Oberschützen, schlug nach vier Jahren die Daueranstellung am Gymnasium aus und brach mit Ulli, seiner Frau und der kleinen Hannah zu einer Reise zu den Labyrinthen Frankreichs und Großbritanniens auf. Damals waren die Labyrinthe noch nicht so wichtig, erst nach der Reise entstanden daraus Vorträge und Seminare. Mit Freunden gründeten sie dann die Montessori-Schule um ihren Kids eine Alternative zu bieten. Heute sieht man ihm an, dass er gerne macht, was er tut. Für mich steht er als Beispiel dafür, wie sehr einen das Leben beschenkt, wenn man den Wendungen nur vertraut und dem folgt, was einen gerade fasziniert. Man kommt durch. Es braucht nicht immer eine fixe Vorstellung wie das Leben einmal aussehen soll, es reicht, wenn einem das, was man in der Gegenwart tut, Freude und Sinn bereitet. Man sich die Wege sucht, die einen gerade begeistern. Genug zum Leben verdienen ist natürlich auch wichtig, aber das schafft man schon. 

Ulli ist eine wunderbare Frau, sie ist Religionslehrerin. Mit Leidenschaft versucht sie ihren Schülern gut zu tun, sie zu ermutigen und ihnen ein paar Lebensweisheiten näher zu bringen. Menschlichkeit und Mitgefühl sind ihr wichtigstes Anliegen. 

 

Am letzten Mittwoch dann verlasse ich das Haus der Candolinis. Candolini bedeutet übersetzt übrigens „kleines Licht“. Cool oder? Ich gehe noch zur Morgenandacht in der Schule, wo ich mich nochmal von den Menschen dort verabschieden kann. Sie wünschen mir Glück, es tut gut. Es tut auch gut wieder weiterzugehen. Es geht nach St. Lorenzen bei Murau, an den Fuß des Kreischbergs zur Skilehrerausbildung, die vom 1. bis zum 10 Dezember dauert. Ich freu mich riesig drauf, der Schnee ist schon in der letzten Nacht gekommen, ich bin schon Bob gefahren und fühle mich sehr wohl. Papa war eine Nacht hier und brachte mir mein Skizeug. Es kann losgehen. Ich bin gespannt.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Maria - Willersdorf (Samstag, 23 Dezember 2017 21:17)

    Schön, was du alles erlebst und wie du es uns mitteilst!
    Ich erlebe auch viel Schönes bei einem Tanzprojekt im Dschungel Wien,, das Stück hat im März Premiere.
    Weiterhin viel Erlebnisse und neue Erkenntnisse, M.